Ich bin leidenschaftlicher Fußballfan. Bei meinem Verein Darmstadt 98 läuft es sportlich grade rund. Auch was das Thema Inklusion betrifft, gibt es positive Nachrichten von meinen Lilien. Am Spielfeldrand ist schon lange Platz für Menschen im Rollstuhl und neuerdings wird die Vereinshymne „Die Sonne scheint“ von Alberto Colucci in Gebärdensprache übersetzt. Auch ein Live-Kommentar per Kopfhörer hilft sehbeeinträchtigten Menschen, das Spiel zu verfolgen und dabei Stadionfeeling zu spüren.
Barrierefreiheit baulich zu schaffen und physische Hürden abzubauen ist ein Anfang. Doch was nützt es, wenn noch Mauern in den Köpfen existieren? Inklusion heißt auch: Die Vorurteile müssen weg. Wie werden Menschen mit Behinderung gesehen? Als Teil der Gesellschaft mit besonderen Bedürfnissen? Als selbstverständliche Gäste? Die sozialen Barrieren werden nämlich nicht gleich mit den Abrissunternehmen und Nachteilsausgleichen entfernt.
An die Anwesenheit von Menschen im Rollstuhl scheinen sich die meisten in vielen Kontexten gewöhnt zu haben. Tan Çağlar, mit dem ich in diesem Jahr bei „Stimmen zur Inklusion“ in Schleswig-Holstein gemeinsam auf dem Podium sein durfte, war vor wenigen Wochen zum ersten Mal im „Tatort“ zu sehen. Er ist nicht nur der Neue im Team, sondern auch der erste Kommissar im Rollstuhl.
Wir haben viele Beispiele von „Ersten Personen“, Menschen mit Behinderung, die sich gegen Widerstände durchsetzen und daher oft härter im Nehmen sind. Leider stehen sie aber auch sinnbildlich für alle, denen das verwehrt bleibt und dürfen nicht über die mangelhafte Inklusion hinwegtäuschen. Ein paar Stimmen mehr bei der Bundestagswahl und mit Heike Heubach gäbe es die erste gehörlose Abgeordnete. Fast anstrengender als der eigentliche Wahlkampf war für sie der einjährige Papierkrieg mit dem Amt um die Übernahme ihrer Dolmetscherkosten im Rahmen der Eingliederungshilfe. Immerhin gibt es bei Marvels „Eternals“ demnächst erstmals eine gehörlose Superheldin im Kino. Aber wir sollten vielleicht bei den Menschen bleiben.
Inklusion ist ein Menschenrecht und die Verpflichtung, Teilhabe zu organisieren, obliegt nicht nur der Gesellschaft, sondern auch dem Staat. Dazu, dass die UN-Behindertenrechtskonvention endlich vollständig umgesetzt wird, können auch mehr Menschen mit Behinderung in der Politik beitragen. Dort sind aber noch relativ wenige zu finden.
Ich bin einer davon und ich war „der Erste“. Der erste Politiker in Deutschland mit Tourette-Syndrom. Im Hessischen Landtag gibt es neben mir noch Abgeordnete mit Gehbehinderung und ein weiterer Kollege sieht nur sehr eingeschränkt. Vermutlich gibt es aber auch Menschen mit nicht-sichtbaren Behinderungen.
Wie geht der Landtag damit um? Wie es den anderen geht, weiß ich nicht. Mir jedenfalls wurde die Frage gestellt, ob mich mein Tourette nicht einschränke. Und auch vor meiner Wahl begegneten mir häufig Zweifel. Hält der das durch im Wahlkampf? Wählen den die Menschen? Das sind die sozialen Barrieren. Diese Fragen entmutigen Menschen. Es braucht daher Familie, Freundeskreis und Vorbilder, die Mut machen. Gemeinsam kann diesen Vorurteilen etwas entgegensetzt werden.
Hier beißt sich die Katze in den Schwanz. Um diese Hürden zu überwinden, brauchen wir mehr Vorbilder. Und um mehr Vorbilder zu schaffen, müssen die Hürden weg.
Spätestens nach meiner ersten Rede im Landtag war dann allen klar, dass Tourette keine Behinderung für meine politische Karriere ist. Und das kann selbstverständlich auch für viele andere Formen von Behinderungen gelten. Es braucht Menschen, die mutig vorangehen, die die Ersten sind und zu Vorbildern werden. Einen Weg als erste gehen, wo andere keinen sehen.
Je vielfältiger die Parlamente werden, desto mehr Menschen fühlen sich auch von Politik angesprochen und repräsentiert. Das macht Entscheidungen ausgewogener. Je mehr die allgemeine Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen im Berufsleben erhöht wird, desto mehr werden Behinderungen im Alltag normalisiert.
Trotzdem definiere ich mich nicht alleine über Tourette. Insbesondere nicht in meinem Beruf auf der politischen Bühne. Im Theaterstück „Chinchilla Arschloch waswas“ von Rimini Protokoll greife ich diesen wichtigen Punkt auf. Insgesamt stehen im Stück drei Menschen mit Tourette auf der Bühne, – sie sind Experten des Alltags. Trotzdem geht es bei unserem Stück weniger um Tourette, sondern mehr um die Interaktion mit dem Publikum. Einer der ersten Sätze, den es von mir zu hören bekommt, lautet:
„Für mich wäre es mal ein Erfolg, wenn ich mal eine Headline über die Inhalte meiner Rede hätte und nicht über die Tatsache, dass ich zucke, wenn ich rede“.
Echt gesellschaftliche Teilhabe bedeutet nämlich nicht Menschen mit Behinderung nur zu Fragen der Inklusion zu Wort kommen zu lassen, sondern auch ihre Expertise in anderen Bereichen anzuerkennen.
Und wenn irgendwann alle Barrieren weg und viele ihren Vorbildern gefolgt sind, ist Tan Çağlar der humorvolle und attraktive Kommissar aus dem Tatort und bin ich der leidenschaftliche Lilienfan und Digitalpolitiker. Auf der Kinoleinwand wird dann ganz inklusiv die Welt gerettet und Vorurteile haben Stadionverbot.